
Das rote Glühen
Thema: Eine kurze Geschichte über ein
unmoralisches Angebot

Sechs Uhr morgens: Philipp wurde von der Türklingel mit nackter Erbarmungslosigkeit aus seinen Träumen gerissen. „Oh Gott verdammt!“, sagte er laut zu sich selbst und sah auf seinen alten Radiowecker neben dem Bett: „Welcher Vollpfosten will irgendetwas von mir um diese Uhrzeit und das an meinem freien Tag?“
Philipp stand auf, schlurfte ins Bad, warf seinen Bademantel über, ging zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt.
Draußen stand Holger und grinste übers ganze Gesicht: „Hallo Philipp!“
„Was willst du?“, Philipp konnte seine Augen kaum offenhalten.
„Kann ich mir deinen Wagen ausleihen? Dauert auch nur ein oder zwei Stunden.“
„Nein!“ Philipp schlug einfach die Tür zu und machte sich wieder auf den Weg zurück zu seinem warmen Bett, das mit bereits zurückgeschlagener Decke im abgedunkelten Schlafzimmer auf ihn wartete. Aber Holger ließ nicht locker und klingelte erneut.
Philipp blieb stehen und seufzte: „Der wird mich sowieso in den Wahnsinn treiben.“ Er drehte sich um, ging wieder zurück und öffnete die Tür erneut: „Ich verleihe Francesca an niemanden.“
„Auch nicht an deinen liebenswerten Zwillingsbruder?“ Holger setzte erneut sein Grinsen auf.
Philipp schwieg. Mit schweren, halbgeschlossenen Lidern, hängenden Mundwinkeln und leicht gebückter Haltung stand er da, den leeren Blick starr auf Holgers leuchtendes Gesicht gerichtet, und bewegte sich keinen Millimeter.
„Na, lass mich doch erstmal reinkommen!“ Holger wartete Philipps Antwort gar nicht erst ab, schob sich an ihm vorbei und stellte sich mitten im spärlich eingerichteten Flur auf: „Mann, du weißt doch: Ich habe doch eine neue Freundin, Rita. Und jetzt gleich ist doch gleich diese Mondfinsternis. Du weißt schon: Wo der Mond so total rot leuchtet. Ich will mit ihr auf den Hügel rauf und, so zu sagen, den Tag romantisch einläuten.“
Philipp warf die Tür ins Schloss und drehte sich um: „Welcher Hügel?“
„Na da, wo diese Wetterstation steht. Ich habe keine Ahnung, wie der heißt. Aber seit wann hat dein Auto einen Namen?“
„Francesca ist ein roter Sportwagen aus einer italienischer Edelschmiede, wie du weißt, besser gesagt: rotglühend! Ich habe eine Unsumme für sie bezahlt und mir einen Kindheitstraum erfüllt. Sie sie dir an! Dieser Körper, diese Beine!“
Holger runzelte die Stirn: „Du meinst die Karosserie und die Räder, richtig?“
„Ach, für dich ist es nur ein schnelles Auto, mit dem du deine Rita beeindrucken willst. Für mich ist es eine Persönlichkeit, die einen Namen verdient und basta!“
„Na ganz, wie du willst. Aber leihst du mir sie? Ich gebe dir 100 Euro.“
Philipp zog die Augenbraun zusammen: „100 Euro? Soll das ein Witz sein?“
„100 Euro jetzt und nochmal 100, wenn ich wieder da bin. Na?“
Philipp verdrehte die Augen und atmete tief durch.
„Na los, komm schon! Glaubst du, ich weiß nicht, wie knapp du bei Kasse bist, weil du deine ‚Francesca‘, oder wie du sie nennst, finanziert hast?“
„Ich will nicht, dass jemand anderes mit ihr fährt. Das ist ja fast ein unmoralisches Angebot, Mann! Es kommt mir vor, als würde ich sie verraten und sie …“
„200 Glocken!“, unterbrach ihn Holger.
Philipp zögerte.
„300!“ Holger grinste wieder, wie auf einem Werbeplakat.
„Du wirst langsam fahren und verdammt vorsichtig sein. Du wirst keinen Dreck machen, die Sitze und Spiegel nicht verstellen und wenn ich auch nur die geringste Spur an ihr sehe, wirst du durch die Hölle gehen, verstanden?“ Philipp nahm die Autoschlüssel, die immer griffbereit auf dem alten, Kiefernholzsideboard lagen, und drückte sie Holger in die Hand.
„Super, Danke!“ Holger hüpfte fast vor Freude. Dann zog er seine Geldbörse aus der Innentasche seines Mantels, nahm einen Hundert-Euro-Schein heraus und steckte ihn Philipp in die Brusttasche seines Bademantels: „Ich werde gut auf deinen Schatz aufpassen. Und sieh es mal so: Deine Francesca wird den Unterschied ja gar nicht bemerken: Wir gleichen uns doch wie ein Ei dem anderen.“
„Sie steht unten in der Tiefgarage, wie immer. Und jetzt verschwinde!“
Holger öffnete die Tür und schlüpfte schnell hindurch.
Acht Uhr morgens: Die Türklingel riss Philipp erneut aus dem Schlaf. Das Ritual wieder holte sich: Fluchen, Badezimmer, Bademantel, Tür.
„Herr Zeitzmann, Sie sind verhaftet!“ Ein großer, breitschultriger Mann im langen Wintermantel zeigte kurz einen Dienstausweis, während ein Polizist in Uniform Philipp an der Schulter packte, ihn unsanft umdrehte und ihm Handschellen anlegte.
„He? Was soll das?“ Philipp schrie, wehrte sich jedoch nicht: „Können Sie mir sagen, was ich verbrochen haben soll, während ich geschlafen habe?“
„Stellen Sie sich jetzt auch noch blöd? Behaupten Sie etwa, dass sie nicht die Bankfiliale an der Bahnhofstraße überfallen haben? Ihr ‚unauffälliges‘ Fluchtauto und ihre Visage ist auf jeder einzelnen Überwachungskamera der Bank zu sehen. Und jetzt Abmarsch!“
Philipp wurde noch blasser, als er es bereits war: „Aber das war mein Zwilligs…“
„Ja, ja, erzählen Sie uns das auf dem Revier.“
Zehn Uhr morgens: Philipp saß auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch des Kommissars und kratzte sich vollkommen übermüdet seine Bartstoppeln. Ein Polizist kam heran und reichte dem Kommissar einen Zettel, flüsterte ihm etwas ins Ohr und verschwand wieder in den Weiten des Raums.
„Also, Ihr Bruder hat ein hieb- und stichfestes Alibi.“
„Ja, welches denn?“, sagte Philipp mit leicht provozierendem Ton.
Der Kommissar sprang auf und schrie mit rotglühendem Gesicht: „Er war beim Friseur! Der Laden hat eine Überwachungskamera und da ist er eindeutig zu sehen. Und jetzt erklären Sie mir nochmal genau alles, und zwar von vorn.“
Philipp atmete tief ein und aus, beugte sich vor und legte sich mit dem Gesicht auf die hölzerne Tischplatte. Doch ein Mann, der gerade in Handschellen durch den Raum geführt wurde, ließ Philipp wieder aufsehen: „Hey, bist du nicht der Typ, der die Bank ausgeraubt hat und danach mit seinem roten Rennwagen wieder nach Hause gefahren ist? Das ganze Internet lacht sich schon kaputt!“
„Also los, nochmal von vorn!“, drängte der Kommissar, aber Philipp seufzte nur ein lautes: „Oh Gott!“, und legte seinen Kopf wieder auf den Schreibtisch.
Drei Tage später, abends, am Strand von Ipanema: „Sieh dir diesen Himmel an: Ein rotes Abendglühen über dem Ozean. Traumhaft!“ Holgers Blick wanderte am Horizont entlang, während das Meer die Szene mit seinem wohltuenden Rauschen untermalte.
Jochen, der neben ihm stand, hob seine Bierflasche: „Darauf stoßen wir an: Auf das Abendrot und auf unsere neue Zukunft. Ich mit meinem neuen Friseurladen und du mit … was auch immer du vorhast.“
Holger hob seine Bierflasche und stieß mit Jochen an: „Und auf deine Idee, die Zeitdaten bei den Kamerabildern zu manipulieren!“
Jochen setzte seine Flasche zum Trinken an, hielt jedoch inne: „Und was ist mit Philipp? Kommt der da wieder raus?“
„Mein Geständnis ist per Post an die Polizei unterwegs. Es sollte morgen oder so eintreffen. Aber hier sind wir sicher. Es gibt kein Auslieferungsabkommen!“ Holger zwinkerte Jochen zu und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche.
Und in diesem Moment verschwand die Sonne rotglühend im spiegelnden Wasser.