
Rock'n'Roll
Thema: Eine kurze Geschichte über den
Schulalltag eines altmodischen Lehrers

Angelika kam, wie jeden Morgen, gut gelaunt ins Lehrerzimmer. Sie pfiff leise eine Melodie vor sich hin, nahm sich einen Kaffee und sah in die Runde. Aber heute blieb ihr Blick an einem Kollegen hängen, der mit leerem Blick gen Boden starrte und pausenlos an seiner Tasse nippte. Also ging sie zu ihm: „Was ist los, Robert? Du siehst furchtbar aus. Schlecht geschlafen?“
„Nein. Gleich in der ersten Stunde wartet meine absolute ‚Lieblingsklasse‘ auf mich. Ich habe so dermaßen keinen Bock, wenn ich das mal so salopp formulieren darf.“
„Oh ja, so eine Klasse hab‘ ich auch. Aber warum …“
Robert schnitt Angelika das Wort ab: „Warum? Letzte Woche haben die ein Video über mich online gestellt, in dem die mich so richtig durch den Kakao ziehen. Du weißt schon: Ich bin alt, meine Klamotten sind hässlich, mein Motorrad ist ein Schrotthaufen und ich labere nur langweiliges Zeug. Sogar während des Unterrichts haben die mich gefilmt und versucht, aus Textschnipseln einen Rap zusammenzuschneiden!“
„Und? Willst du dagegen vorgehen?“
„Was würde das bringen? Danach wäre ich nur noch eine größere Zielscheibe.“ Robert stand auf, brachte seine Kaffeetasse zurück zur kleinen Küchenzeile und schulterte seine Tasche: „Ich bin Musiklehrer, zum Teufel! Musik ist Kultur! Und was hat das bitte damit zu tun, dass ich inzwischen 58 bin, Vintage-Klamotten trage und ein Motorrad aus den 70ern fahre?“ Robert schrie fast, beruhigte sich dann aber wieder: „Na ja, zumindest war Musik mal Kultur. Hast du dir das Zeug mal angehört, was sich die Kids heutzutage reinziehen?“
„Oh mein Gott, ich weiß, was du meinst. Mein Sohn dudelt das Zeug auch den ganzen Tag beim ‚Chillen‘ runter. Nach ein paar Minuten bekomme ich Kopfschmerzen und renne freiwillig aus seinem Zimmer.“
„Ich muss irgendetwas Anderes probieren.“, sagte Robert mehr zu sich selbst als zu Angelika: „Es muss doch möglich sein, zu den Kids durchzudringen.“ Dann ging er gedankenversunken aus dem Lehrerzimmer, hinaus auf den Gang.
Eine Woche später stieg Angelika wie gewohnt aus ihrem Auto, ging gut gelaunt vom Parkplatz ins Schulgebäude, doch direkt am Eingang hing ein großes Schild, auf dem „zur Kultur“ geschrieben stand mit einem Pfeil darunter, der in Richtung Auditorium zeigte. Angelika runzelte die Stirn, folgte dann aber dem Pfeil und öffnete schließlich die große Flügeltür zum Auditorium.
Auf der Bühne stand das komplette Equipment einer Band und auch eine PA mit großem Mischpult war aufgebaut. Ein Techniker nahm noch ein paar Einstellungen an einem Rack mit Effektgeräten vor, während schon die Hintergrundmusik lief.
Auch einige Lehrerkollegen und ein paar Schüler waren bereits da, standen in kleinen Grüppchen herum und tuschelten oder hatten bereits auf den hölzernen Klappsitzen für das Publikum Platz genommen.
Angelika ging jedoch direkt zur kleinen Tür neben der Bühne, die in den Backstage-Raum führte und öffnete sie.
Aber Robert kam ihr bereits entgegen: „Hallo Angelika, ist meine Klasse schon da?“
„Die 10 B?“
„Ja, die 10 B. Aber lass nur, ich sehe sie schon.“
„Was in Gottes Namen hast du vor?“
„Überraschung! Ich habe alles mit dem Hausmeister besprochen. Er hat uns letzte Nacht hier aufbauen lassen. Toll nicht?“
„Toll? Das kann nur eine Schnapsidee sein!“ Angelika drehte sich um und ging in Richtung der Sitzbänke.
Zwei Minuten später betrat Robert die Bühne: „Hallo zusammen. Heute gibt’s mal einen etwas anderen Musikunterricht.“
Die Schüler im Saal pfiffen und grölten.
„Ich dachte mir: Wenn ich euch nicht dazu bewegen kann, in ein vernünftiges Rockkonzert zu gehen, dann bringe ich eben das Rockkonzert zu Euch. Eure Aufgabe heute ist: Zuhören und Spaß haben! Und das hier ist meine Band, mit der ich seit über 20 Jahren Musik mache.“
Fünf weitere Musiker betraten die Bühne, Robert hängte sich seinen Bass um und ging zurück zum Mikrofon. Der Schlagzeuger zählte ein und schon fetzte der erste Song aus den Lautsprechern.
Robert sang und spielte Bass, wechselte von Rock zu Funk und weiter zum Soul. Das Auditorium füllte sich im Rekordtempo: Lehrer, Schüler, der Hausmeister, ja sogar ein paar Elektriker, die einen Schaltkasten im Physikraum reparieren sollten, waren gekommen.
Die Band spielte Song für Song und das Lächeln auf den Gesichtern der Musiker wurde breiter und breiter. Doch dann betrat der Schulleiter mit hochrotem Gesicht das Auditorium und ging schnellen Schritts zum Techniker am Mischpult: „Machen sie sofort aus!“
„Was?“
„AUSMACHEN!“ Der Schulleiter wollte an die Schieberegler greifen, aber der Techniker schlug ihm auf die Finger: „Net anpacken, dat Zeuch is watt teuer!“
Aber der Schulleiter gab nicht auf und zog kurzerhand der Stecker des Mischpults aus der Verteilerdose am Boden. Die PA verstummte und auch die Musiker hörten nach und nach auf zu spielen.
„ALLE SOFORT RAUS HIER UND IN DIE KLASSENRÄUME!“ Der Schulleiter schrie so laut, dass er selbst ohne Mikrofon alle Aufmerksamkeit auf sich zog: „Kaum komme ich mal ein paar Minuten später, wird meine Schule zum Zirkus umfunktioniert? Wo gibt’s denn sowas?“ Dann wandte er sich Robert zu, der noch immer mit umgehängter Bassgitarre auf der Bühne stand: „Und sie, Herr Trummler: Kommen sie bitte sofort in mein Sprechzimmer!“ Der Schulleiter rauschte davon.
„Ihr habt’s gehört!“ sagte Robert, stellte seine Bassgitarre in den Ständer und ging von der Bühne. Das Publikum verließ unterdes nach und nach den Saal, bis nur noch die leeren Sitzreihen zurückblieben und Stille einkehrte.
Ein paar Minuten später öffnete Robert die Tür zum Sprechzimmer des Direktors: „Sie wollten mich sprechen?“
„Kommen sie rein, schließen sie die Tür und setzen sie sich!“
Robert gehorchte und nahm auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch des Schulleiters Platz.
„Was sollte das da heute werden?“
„Nun ja, es war Musikunterricht in der Praxis.“ Robert konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
„Der Lehrplan sagt aber, dass sie die politische Komposition Anfang des 20. Jahrhunderts durchnehmen sollen. Stattdessen tanzen sie auf der Bühne rum, wie ein geisteskranker Affe.“
Robert zog die Augenbraun zusammen, stand langsam auf und stützte sich mit beiden Fäusten auf dem Schreibtisch ab: „Geisteskranker Affe: Das war Rock’n’Roll, richtige Musik. Die Kids sollen lernen, dass es noch etwas Anderes gibt als das Zeug, mit dem sie 24 Stunden am Tag aus dem Internet raus beschallt werden. Mann, was wurden früher für Songs geschrieben. Da jagte ein tolles Album das nächste. Das waren Alben, die in die Musikgeschichte eingingen! Irgendjemand muss den Kids das mal nahebringen, und wer sonst als ihr Musiklehrer!“
Der Schulleiter ließ Roberts emotionalen Ausbruch jedoch vollkommen an sich abprallen: „Gehen sie. Sie sind heute beurlaubt. Ich werde dafür sorgen, dass sie schnellstmöglich an eine andere Schule versetzt werden.“
Robert wollte noch ein Donnerwetter loslassen, aber die Worte wollten einfach nicht aus seinem Mund herauskommen. Also atmete er tief durch und ging ohne weiteren Kommentar hinaus.
Zu seiner Überraschung wartete Melanie, eine Schülerin aus der 10 B, vor der Tür auf ihn. Sie lächelte und hielt Robert eine Blatt Papier und einen Stift hin: „Herr Trummler, geben sie mir ein Autogramm?“
„Ein Autogramm?“, fragte Robert verdutzt: „Wieso?“
„Das war richtig tolle Musik heute und ich wollte schon immer ein Autogramm von einem echten Rockstar haben.“
Robert traten die Tränen in die Augen. Wortlos nahm er Papier und Stift und schrieb: „Rock’n’Roll forever! Robert Trummler“
Melanie nahm mit einem breiten Lächeln das Papier zurück: „Danke, Herr Trummler. Rock’n’Roll forever!“
„Ich danke dir, Melanie. Rock’n’Roll forever!“