
Heimkehr
Thema: Eine kurze Geschichte über einen erfolglosen Künstler

Sven saß, wie fast jeden Tag, am Rheinufer, zwischen der Düsseldorfer Altstadt und dem Landtagsgebäude. Sein alter Klappstuhl wippte im Takt, den Sven mit seinem rechten Fuß vorgab, während er den altehrwürdigen Delta Blues auf seiner Gitarre zelebrierte.
Es war ein sehr schöner Tag. Die Sonne spielte mit den vorbeiziehenden Wolken verstecken und auch die Temperaturen luden zu einem zeitlosen Bummel am Flussufer ein. Und so waren an diesem Spätnachmittag viele Menschen am Rhein unterwegs, genossen die leichte Brise, die Ihnen um die Nase wehte, sahen den Schiffen zu, wie sie den kurvigen Flusslauf meisterten, oder beobachteten das Funkeln des Wassers und die Licht-und-Schatten-Spiele auf den Fassaden der prächtigen Stadthäuser am gegenüberliegenden Ufer. Sie liefen die Promenade entlang, vorbei an Sven und an seinem Gitarrenkoffer, der offen vor ihm stand und in dem bereits einige Münzen lagen.
Ein paar Zuhörer hatten sich inzwischen auch eingefunden. Sie hörten Sven ein paar Songs lang zu und zogen dann wieder ihres Weges. Nur einer nicht: Ein großgewachsener Mann mit Vollbart und einer für diese Temperaturen viel zu warmen Jacke stand wie angewurzelt da und beobachtete Sven mit intensivem Blick.
Sven beachtete ihn jedoch nicht weiter, denn er kann ihn schon. Fast immer, wenn Sven hier am Rheinufer spielte, tauchte der Mann irgendwann auf und hörte zu, meist für 10 oder 15 Minuten. Dann ging er normalerweise seines Weges. Aber heute hatte er einen eigenen Gitarrenkoffer dabei. Als Sven eine Pause zwischen zwei Songs einlegte, kam der Mann auf ihn zu, stellte den Koffer neben ihm ab und sagte mit gedämpfter Stimme: „Du spielst super, Mann. Ich hab‘ dir immer gern zugehört, aber ich muss wegziehen. Das hier ist meine alte Gitarre. Sie ist leider kaputt und ich habe keine Zeit, sie zu reparieren. Du kannst sie haben. Vielleicht bringst du sie wieder in Schuss und hast Spaß, auf ihr zu spielen.“
Sven wollte etwas sagen, Aber der Mann wartete nicht. Er drehte sich einfach um und lief schnell in Richtung Burgplatz davon.
Vorsichtig öffnete Sven den Koffer und was er sah, ließ seine Augen immer größer werden: „Wow, das ist eine echte Strat, und eine alte noch dazu.“, sagte er laut. Er stand auf und sah sich um. Doch der Mann war bereits verschwunden.
Am Abend probierte Sven in seiner kleinen Dachwohnung unweit des Carlsplatzes, seine neue, alte Gitarre aus. Einen Wackelkontakt in der Elektrik hatte er schnell beheben können und nun saß er auf seinem Verstärker und improvisierte zum Takt des Metronoms, das vor ihm auf dem Boden stand. Mit geschlossenen Augen fühlte Sven jeden Ton, während seine Finger über das Griffbrett fegten.
Erst als sein Nachbar gegen die Wand hämmerte, wurde er wieder zurück in die normale Raumzeit katapultiert. Er sah auf die Uhr: 22.30 Uhr. Schnell ein Selfie mit seiner Strat im Internet gepostet, eine Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben – Sven ging hinaus auf seinen Balkon, der gerade groß genug war, für einen kleinen, runden Tisch und einen Gartenstuhl mit Fußbank. Sven ging nach vorn ans Geländer und sah über das Lichtermeer der Stadt, deren Straßen wie Lebensadern zu pulsieren schienen. Viele Menschen waren zur späten Stunde noch unterwegs, oder saßen in den Restaurants und Bars am Platz. Und auch Musik schallte leise aus der nahegelegenen Altstadt herüber. Irgendwo dort spielte eine Liveband den altehrwürdigen Delta Blues.
Am nächsten Vormittag klingelte es an Svens Wohnungstür. Draußen stand ein Mann mittleren Alters mit Jeans, T-Shirt und Jackett bekleidet und mit hochgeschobener Sonnenbrille. Doch als Sven öffnete, erkannte er den Mann sofort: „Warten Sie: Sind Sie nicht Georg Heimschneider, der Gitarrist?“, fragte Sven vorsichtig.
„Ja, genau der bin ich.“
Sven gab Georg die Hand: „Das ist aber eine Ehre für mich, Sie persönlich kennenzulernen. Kommen Sie doch herein! Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein danke.“, antwortete Georg und trat ein: „Aber erstmal kannst du ‚du‘ zu mir sagen. Du bist doch auch Musiker. Ich habe dich schon ein paar Mal spielen sehen, unten am Rheinufer. Du spielst toll.“
„Danke. Ich hatte auch mal eine Band, aber nach der ersten Platte war schon wieder Schluss. Dann war ich für eine längere Zeit als Studiomusiker unterwegs, mal hier, mal da. Aber heute wird doch nicht mehr vernünftiges produziert. Wer braucht da noch einen Gitarristen? Ach, ich Vollidiot habe mich gar nicht vorgestellt: Ich bin Sven.“
„Freut mich, dich kennenzulernen, Sven. Jetzt aber zu meinem Anliegen: Gestern hat dir jemand eine Gitarre gegeben, eine alte, blaue Strat. Ich habe dein Foto im Internet gesehen.“
„Ja, das stimmt.“
„Die gehört mir. Sie wurde mir vor Jahren bei einem Konzert geklaut.“ Georg zog ein Schriftstück aus der Innentasche seines Jacketts: „Das hier ist die Versicherungsurkunde. Vergleichen wir die Seriennummer.“
Sven holte die Gitarre aus dem Nebenzimmer, öffnete den Koffer und sah sich die Seriennummer an: Sie war identisch mit der auf dem Schriftstück.
„Das ist eine meiner Lieblingsgitarren, original von 1957 und jetzt endlich kehrt sie heim.“, Georg atmete tief durch, bevor er weitersprach: „Hey, ich habe viele Aufnahmen damit eingespielt. Viellicht hast du sie schon gehört.“
„Ja, vielleicht.“, sagte Sven leise: „Sie hatte übrigens einen Wackelkontakt am Hals-Pickup, Ich habe das repariert. Ist alles wieder, wie’s sein sollte.“
„Super, Danke! Der Typ, der dir die Gitarre gegeben hat, ließ sie seinerzeit mitgehen. Er hat einen meiner Rowdies bestochen, die Gitarre für ihn zu klauen. Ich habe das Arschloch jahrelang gesucht und vor ein paar Tagen habe ich ihn dann doch ausfindig machen können.“
„Deswegen hat er sie mir gegeben. Er musste sie loswerden!“
„Genau! Aber sag mal: Warum kommst du nicht am Wochenende runter ins Studio, unten am Medienhafen, kennst du das?“
„Ja klar.“
„Ich bastele da gerade mit ein paar Leuten an neuen Songs rum. Jammen wir einfach ein wenig, okay?“
Sven Augen leuchteten: „Okay! Wann soll ich da sein?“
„Samstag, gegen zwei?“
„Perfekt!“
Georg packte seine Gitarre ein und ging zur Tür: „Danke, Sven. Dann bis Samstag.“
Langsam und in Ehrfurcht betrat Sven den Aufnahmeraum des Studios. Er hatte früher hier schon ein paar Male aufgenommen, aber dennoch schien an diesem Tag alles neu und anders zu sein, obwohl wieder einmal das angenehme Chaos aus Instrumenten, Verstärkern, Kabeln und Mikrofonen herrschte, das Sven, wie jedes Mal, einen angenehmen Schauer durch den Körper jagte.
„Hallo Sven!“, schallte es aus dem Talk Back. Sven drehte sich um und sah Georg durch die große Glasscheibe hindurch im Regieraum sitzen: „Schön, dass du kommen konntest. Ich bin gleich bei dir.“
Sven antwortete mit einem kurzen „Daumen hoch“ und ließ seinen Blick wieder durch den Raum wandern: Vom Flügel zum Schlagzeug und weiter zum Bassverstärker. „Ja.“, sagte Sven laut zu sich selbst: „Auch ich bin heimgekehrt.“