
(K)eine Frage des Geschmacks
Thema: Eine kurze Geschichte über eine
Abschlussprüfung

Voller Ungeduld wartete Harald darauf, dass er endlich an der Reihe war. Aber der Prüfer ließ sich Zeit. Er ging, begleitet von einer Assistentin und einem Assistenten, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und schaute sich jede Kreation genauestens an. Er drehte sie hin und her, testete die Konsistenz und probierte am Ende auch einen Bissen.
Aber dann war es so weit: „Aha, unser Herr Streitmeier ist an der Reihe. Aber lassen Sie mich vorweg noch sagen, wie toll ich es finde, dass Sie im Alter von 69 Jahren noch eine Konditorlehre abschließen möchten.“
„Danke, Herr Oberbecker, ich habe schon immer leidenschaftlich gern gebacken und Torten kreiert. Und eigentlich war das schon seit Kindertagen mein Berufswunsch gewesen. Leider ist er bis dato nicht in Erfüllung gegangen. Aber jetzt, wo ich pensioniert bin, und Zeit habe, wollte ich das einfach nachholen und sagen können: ‚Ich bin ein Konditor!‘“
„Na, das klingt doch hervorragend. Ihre theoretische Prüfung war ja auch sehr überzeugend. Aber jetzt schauen wir uns mal Ihre Kreation zum Thema ‚Freestyle‘ an. Ja, was haben wir denn da: Ein Delfin, der auf einer Welle schwimmt. Das ist ja wirklich großartig und sehr interessant, vor allem, wie sie das Ganze ausbalanciert haben. Ein richtiges kleines Meisterwerk!“
„Danke!“, sagte Harald, mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, während Prüfer Oberbecker den Delfin langsam herumdrehte und alles genauestens unter die Lupe nahm: „Er besteht aus mehreren, sich abwechselnden Schichten von Vanille-Mandel-Kuchen und Kirschgelee, ummantelt mit Marzipan. Die Welle ist ein Schokoladenkuchen mit Schoko-Überzug. Da habe ich etwas Stabileres verwendet, damit das Ganze auch gut hält.“
„Schön, Herr Streitmeier, sehr schön!“ Herr Oberbecker schien zufrieden, doch dann zog er plötzlich die Augenbraun zusammen: „Aber was haben Sie denn da an die Seite geschrieben ‚Rettungsdelphin‘“?
„Ja, sehen Sie nicht das rote Kreuz auf seiner Rückenflosse? Das ist übrigens Weingummi.“
„Natürlich sehe ich das, aber ‚Delphin‘ ist falsch geschrieben. Nach der neuen Regel muss es ‚Delfin‘ heißen.“
Harald sah den Prüfer entgeistert an, aber dieser stand in gebückter Haltung da und kratzte mit seinem Fingernagel am kleinen ‚h‘ des Schriftzugs herum: „Aber Herr Oberbecker, neue Regel, alte Regel: Das ist doch egal. Es ist ein Kuchen und der schmeckt. Probieren Sie mal!“
Herr Oberbecker schaute auf: „Aber stellen Sie sich mal vor, ich wäre der Kunde. Dann würde ich Ihnen das Ding hier um die Ohren hauen!“
Harald lächelte immer noch und ließ die Kritik einfach an sich abprallen: „Kosten Sie erstmal und dann sagen Sie mir nochmal, dass die neue Rechtschreibregel eine Rolle spielt!“
„Das brauche ich nicht. Es ist nun mal ein Fehler und so etwas darf nicht passieren.“
Nun verlor Harald doch langsam seine Geduld und wurde lauter: „Ich bin aber mit der ‚alten‘, wie Sie sagen, Rechtschreibung groß geworden und mein imaginärer Kunde ist eben auch schon 69 Jahre alt wie ich. Dem würde das bestimmt nichts ausmachen.“
„Aber mir. Und ich bin nun mal Ihr Prüfer.“
„Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass eine der besten Konditorkreationen, deren Geschmack Ihnen sämtliche Sinne vor Verzücken überladen würde, durchfällt, wegen einer orthografischen Meinungsverschiedenheit?“
„Na schön!“ Jetzt sprach auch der Prüfer mit deutlich festerer Stimme: „Ich gebe Ihnen 10 Minuten Zeit, um das zu korrigieren.“ Seine Assistentin notierte etwas auf ihren Schreibblock und die Prüfungskommission zog weiter zum nächsten Arbeitsplatz.
Harald stand für fast eine halbe Minute wie angewurzelt und mit versteinerter Miene da und versuchte seinen Ärger zu verdauen. Dann endlich nahm er seine Konditorutensilien zur Hand und machte sich an die Arbeit.
Als Herr Oberbecker zu Haralds Kreation zurückkam, fand er den Arbeitsplatz verlassen vor. Nur auf dem Tisch stand jetzt ein Delfin mit einem Ring durch die Rückenflosse und zwei langen Reißzähnen. Die Seitenflossen waren zu Händen umgeformt worden, von denen eine den Mittelfinger hob. Und an der Seite stand nun geschrieben: „Phantasie Delphin“.