
Die Reise ans Ende des Flusses
Thema: Eine kurze Geschichte, in
der Holz eine zentrale Rolle spielt

Es waren einmal zwei Möwen, die hießen Egon und Udo und sie saßen nebeneinander auf einer Kaimauer des Rheins in Rüdesheim und betrachteten die Weinberge um sie herum. Alles war wie immer: Die Sonne schien, die Touristenströme wälzten sich am Ufer entlang und durch die Gassen der Altstadt. Die Seilbahn fuhr die Ausflügler und Ausflüglerinnen die Hügel empor und das Wasser floss wie jeden Tag ahnungslos und zeitlos dahin.
„Du Udo, mir fällt die Decke auf den Kopf.“, sagte Egon plötzlich.
„Welche Decke?“
„Du weißt schon, wie ich das meine: Jeder Tag ist wie der vorangegangene. Touris, Touris, Touris, Souvenirs. Stadt wird dreckig, Fluss wird dreckig, der Fisch schmeckt beschissen. Wenn man Glück hat, kann man irgendeinem blöden Touri das Fischbrötchen aus der Hand klauen. Das ist wenigstens frisch.“
„Wieso bist du so frustriert?“, fragte Udo: „Wir sind Möwen, Mann! Wir sind schaue Tiere und suchen uns einfach eine andere Futterquelle.“
Egon ließ die aufkommende Windbö durch sein Gefieder streichen, aber schon nächsten Moment sprach er weiter: „Wasser, Fisch, Wind, Wasser, Fisch, Wind, Wasser, Fisch, Wind: Es muss mehr als das geben.“
„Dann flieg doch einfach woanders hin.“, erwiderte Udo voller Unverständnis.
„Ach, Fliegen ist anstrengend: Wind, Luftverschmutzung, Krähen …“, Egon hielt plötzlich inne und richtete seinen Blick aufs Wasser: „Sieh mal: Da schwimmt ein Holzbrett im Wasser. Da setzte ich mich drauf und lasse mich mit dem Fluss treiben. Mal sehen, wo der überhaupt ankommt. Und ich muss nicht mal selbst die Federn nass machen. Kommst du mit?“
„Ich? Nein! Ich glaube, du hast 'nen Vogel: Sich treiben lassen, zum Ende des Flusses. Ich gehe lieber wieder auf Fischbrötchenjagd!“ Udo spreizte die Flügel und flog hinüber zum anderen Ufer in Richtung Touristenmeile.
„Na schön, dein Problem!“, sagte Egon laut, flog los und landete auf dem Holzbrett. Er setzte sich bequem darauf und ließ sich treiben, aus der Stadt hinaus und weiter in Richtung Norden.
Vorbei ging es am Mäuseturm in Bingen, wo ihn viele andere Möwen argwöhnisch betrachteten und riefen: Du faules Federvieh: Flieg gefälligst oder schwimm selbst!“
Aber Egon schenkte ihnen keine Beachtung. Er sah sich die Schiffe an, die an ihm vorüberzogen und die vielen Burgen, die links und rechts des Flusslaufs wie alte Zeitenwächter auf den Weinbergen thronten.
Doch kurz hinter Bacharach, das sich malerisch und unwirklich an das Rheinufer schmiegte, sah Egon einen hohen Felsen auf sich zukommen, der ins Wasser hereinzuragen schien. Und auf der obersten Kante saß eine Möwe, wunderschön anzusehen und sie rief in den herrlichsten Tönen über das Tal. Von Zeit zu Zeit ordnete sie ihr Gefieder, um gleich darauf noch schöner weiterzurufen.
„Von der Geschichte hatte mir meine Mama schon erzählt, als ich noch Eierschale auf dem Kopf hatte.“, erinnerte sich Egon. Also richtete er seinen Blick nach unten, hielt die Flügelspitzen ins Wasser und steuerte geschickt um den gigantischen Felsen herum.
Stunden vergingen, es wurde Nacht es wurde Tag, aber Egon schlief nicht. Er trieb mit seinem Holzbrett an so vielen seltsamen und verrückten Orten vorbei, die er sich unbedingt ansehen wollte, dass schlafen und etwas verpassen, einfach nicht in Frage kam.
Da war diese Festung im Wasser, an der ein anderer Fluss in den Rhein einmündete. Viele Touristen waren dort, so dass Egon fast wieder auf Fischbrötchenjagd gegangen wäre. Aber die Neugier auf das Ende des Flusses war größer als der Hunger.
Ein paar Stunden später führte der Fluss dann durch mehrere große Städte. In einer davon stand eine riesige Kirche. Egon bekam sogar ein wenig Angst, denn er war sich sicher, dass dort Falken ihr Unwesen trieben.
In der nächsten Stadt, saßen sehr viele Menschen am Ufer und tranken Bier. Egon hatte mal einen Schluck aus einer weggeworfenen Dose probiert und konnte anschließend ein paar Stunden lang nicht mehr geradeaus fliegen. „Was die Menschen an diesem Zeug bloß finden?“, fragte sich Egon. Aber die Absonderlichkeiten hörten nicht auf: Ein paar Leute, fotografierten ihn und winkten hm zu. „Haben die noch nie eine Möwe auf einem Holzbrett gesehen?“, dachte Egon: „Die scheinen sowieso ein bisschen bekloppt zu sein. Nicht mal den Kirchturm da hinten konnten die gerade bauen.“
Doch dann wurde es ruhiger. Die Berge waren längst verschwunden und der Fluss zog seine Bahn durch das flache Land. Und je weiter Egon vorankam, desto mehr fühlte er einen seltsamen Geruch in der Nase: das Meer. Und dann plötzlich war es so weit. Der Fluss gabelte sich ein paar Mal, um sich dann endgültig im Ozean zu verlieren. Egon verließ sein Holzbrett, das weitertrieb, hinauf aufs offene Wasser, und flog an den Strand. Doch als er im Sand landete, kam eine andere Möwe auf ihn zu: „Hey, wer bist du denn?“
„Ich bin Egon. Ich bin von Rüdesheim aus auf einem Holzbrett bis hierher getrieben.“
„Klingt ja spannend! Ich bin übrigens Inge. Willst du hier Urlaub machen?“
„Urlaub? Na ja, ich wollte mal etwas anderes sehen.“
„Oh, klar.“, sagte Inge: „Also hier gibt es viel Fisch und viel Wasser und es ist immer ein bisschen wina. Und da vorn gibt’s ganz viele Touris. Manche von denen sind so blöd, denen kann man die Fischbrötchen aus der Hand klauen.“