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Die Rufe der Lichter
Thema:  Eine kurze Geschichte, die um 3 Uhr morgens spielt

Schon halb drei. Wieder eine schlaflose Nacht. Ich liege mit offenen Augen auf meiner Bettdecke und starre an die Holzvertäflung über mir, die im schwachen Mondlicht, dass noch durch die zugezogenen Vorhänge dringt, bleich und tot wirkt. Die Stille im Raum schmerzt in meinen Ohren, bringt die Nervosität in mir zum Kochen.

In Gedanken gehe ich all meine Fälle wieder und wieder durch, alle Beweise, alle Zeugenvernehmungen, sehe die Opfer vor mir. Egal wohin ich mich drehe: Immer gibt es irgendeine Projektionsfläche, auf der die Stakkato-Bilderflut von neuem beginnt.

Ich wollte immer Kommissarin werden, schon als Kind. Und jetzt, da ich es bin, zerstört es mich langsam und frisst mich Stück für Stück bei lebendigem Leibe auf. Deshalb bin ich hierher aufs Dorf gezogen, um Abstand vom Job zu bekommen. Ich wollte ihn in der Stadt zurücklassen und nach der Arbeit in meine kleine Idylle gehen, ohne Verbrechen, ohne Gewalt, ohne Morde.

Ich dreh mich auf die Seite, auf die andere Seite, wieder auf den Rücken. Ich stehe auf.

Das Schlafzimmer dreht sich im Kreis um mich herum. Also ziehe ich die Vorhänge auf. Am Horizont flackern die Lichter der Stadt wie ewige Flammen. Sie rufen nach mir, packen mich mit unsichtbaren Tentakeln.

Ich ziehe mich an, steige in mein Auto und fahre ins immer greller werdende Lichtermeer, wie eine Motte, beim Anblick einer Glühlampe.

Ein paar Minuten später laufe ich durch leere Geschäftsstraßen und Fußgängerzonen. Kaum eine Menschenseele ist hier. Aber die Luft riecht vertraut und die Geräusche der wenigen Autos, die sich über den Stadtring bewegen, geben mir eine leichte Gänsehaut.

Ich setzte mich auf eine der vielen Bänke, die hier in der Einkaufsmeile aufgestellt sind. Eine junge Frau eilt die Straße entlang, in Partykleid, kurzer Lederjacke und High-Heels. Doch als sie mich sieht, kommt sie auf mich zu: „Entschuldigen Sie. Ich bin nicht von hier. Wo geht’s hier zum Bahnhof? Ich würde ja selber nachsehen, aber mein Handy hat keinen Akku mehr.“ Im Licht der Straßenlaternen kann ich erkennen, dass die Schminke um ihre Augen herum verlaufen ist.

„War wohl kein so toller Abend, oder?“

„Nicht wirklich. Ich wollte mich mit meinem 'jetzt Ex-Freund‘ aussprechen und … Ach, was nerve ich Sie. Ich sage nur eines: Männer!“

„Wem sagen Sie das: Ich bin seit 3 Jahren geschieden. Aber setzen Sie sich doch zu mir und erzählen Sie mir ein wenig. Das ist manchmal die beste Medizin.“

Die Frau setzt sich neben mich: „Danke, Sie sind sehr nett. Aber was treibt Sie eigentlich um 3 Uhr nachts auf die Straße?“

„Ich kann mal wieder nicht schlafen. Der Job jagt mich. Ich bin Kommissarin.“

„Oh, na da fühle ich mich gleich viel sicherer.“

Die Frau auf der Bank zieht eine Packung Kaugummi aus der Innentasche ihrer Jacke.

„Nein danke, aber es ist lieb von Ihnen.“

Wir sehen uns ein paar Augenblicke lang an, ohne etwas zu sagen. Dann steht die Frau neben mir plötzlich auf: „Ich sollte jetzt wirklich nach Hause. Ich kann jetzt sowieso nicht über diesen Typen sprechen und über alles, was passiert ist. Aber vielen Dank für das Angebot.“

„Nichts zu danken. Zum Bahnhof müssen Sie einfach nur weitergehen. Aber um die Ecke ist ein Taxistand. Das ist sicherer. Derzeit läuft so ein Typ in der Stadt herum, der nachts junge Frauen anspricht, sie betäubt und erdrosselt. Es gibt schon zwei Opfer.“

„Wow, jetzt haben Sie mir Angst gemacht. Aber in Wahrheit halten Sie hier gerade Ausschau nach dem Typen, oder?“

„Vielleicht?“

„Also Danke nochmal. Ich nehme auf jeden Fall ein Taxi. Ich kann den Stand schon sehen. Ihnen noch eine gute Nacht. Und passen Sie auf sich auf.“

„Sie auch.“

Die Frau rennt, so schnell es mit ihren hohen Absätzen geht, in Richtung Taxistand. Und ein paar Minuten später mache auch ich mich wieder auf den Heimweg.

Am nächsten Morgen auf dem Revier kommt mir mein Kollege Martin bereits entgegengeeilt: „Kerstin, du glaubst es nicht: Das dritte Opfer ist aufgewacht, die junge Frau, die überlebt hat. Thorsten und der Phantomzeichner sind bereits bei ihr im Krankenhaus.“

„Wow. Das sind ja super Neuigkeiten. Hat sie schon etwas zum Hergang der Tat sagen können?“ Meine Herzfrequenz steigt rasant an.

„Ja: Stell dir vor, es ist eine Täterin. Sie hat sich neben das Opfer auf eine Bank gesetzt und ihr Kaugummi angeboten. Vermutlich war da das Gift … Ist alles in Ordnung, Kerstin? Du siehst so blass aus.“

„Ich muss mich setzen.“ Martin greift den nächstbesten Stuhl und zieht ihn heran. Ich schaffe es gerade noch, mich hinzusetzen, bevor meine Beine nachgeben.

„Martin, Kerstin! Hier ist gerade die E-Mail mit dem Phantombild gekommen!“ ruft Georg vom anderen Ende des Büros her.

Ich sammele meine Kräfte, stehe auf, renne zu Georgs Schreibtisch und schaue auf den Computermonitor.

Die E-Mail öffnet sich, Georg klickt auf den Anhang. Das Bild der Mörderin erscheint vor mir und im nächsten Augenblick wird es schwarz vor meinen Augen. Alles verschwimmt, alles dreht sich. Die Stimmen um mich herum verschmelzen zu einem unverständlichen Gewirr. Doch dann höre ich plötzlich Martins Worte, laut und deutlich: „Kerstin, du bist verhaftet!“

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