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Die grüne Kandidatin
Thema:  Eine kurze Geschichte mit einer Pflanze als Protagonist

Am Mittag des 15. August trat Harald auf den Dorfplatz, der in der Sommersonne zu glühen schien. Die Fassaden und die Fenster der Häuser reflektieren das sengende Licht zusätzlich nach unten auf die grauen Pflastersteine und verwandelten den Platz an diesem Feiertag nahezu in einen Backofen. Und so waren um diese Zeit nur sehr wenige Menschen hier unterwegs. Die meisten von ihnen saßen an den Tischen der einzigen Wirtschaft hier am Platz, die im Schatten der mächtigen Kastanie in der Platzmitte aufgestellt waren, und versuchten sich mit kalten Getränken ein wenig Kühlung zu bekommen.

Harald wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging ebenfalls zu einem der Tische, wo ihn bereits Norbert und Joachim erwarteten. Er begrüßte die beiden, setzte sich und bestellte sich per Handzeichen ein Bier.

„Also, hatte einer von Euch eine Idee, wer zur Wahl antreten soll?“, begann Joachim die Diskussion.

Harald und Norbert schwiegen.

„Hatte ich mir gedacht. Dann frage ich mal so: Norbert, warum willst du nicht Bürgermeister werden?“

„Ich?“, Norbert klang fast entrüstet: „Ich und Organisation: Das wird nichts.“

Aber Joachim ließ nicht locker: „Und du, Harald: Was ist mit dir?“

„Ich habe jetzt schon zu wenig Zeit für meine Familie. Das packe ich nicht. Aber du selbst könntest doch antreten, oder?“

Joachim sah nach unten in sein halbleeres Bierglas.

„Du hast Angst vor Walter, genau wie alle anderen!“, sagte Harald barsch. Doch in diesem Moment kam der Kellner mit seinem Bier und entspannte die Situation auf diese Weise etwas.

„Alle haben Angst vor diesem Arschloch. Du auch und du, Norbert, auch.“

„Deswegen darf er nicht wieder Bürgermeister werden.“, sagte Norbert ruhig: „Er verteilt Genehmigungen für egal was für Anträge wie er gerade lustig ist und nur an die Leute, die er mag. Er drangsaliert seine Nachbarin, weil er unbedingt eine breitere Garageneinfahrt haben will und die Hälfte seiner Familie arbeitet schon im Rathaus und produziert nichts anderes als heiße Luft.“

„Und diese Laserfirma, die das Gelände am alten Steinbruch kaufen wollte, hat seinetwegen einen Rückziehen gemacht. Er MUSS weg und wir haben niemanden. Die Wahl ist schon in einem Monat!“, sagte Joachim mit versteinerter Miene.

„Ich hab’s!“ rief Harald plötzlich und so laut, dass das Echo von den Häuserwänden widerschallte: „Wir stellen Cornelia auf!“

„Cornelia?“, fragten Norbert und Joachim fast gleichzeitig.

Harald grinste, stand auf und wie ein Fernsehmoderator bei der Ansage eines Künstlers hob er die Hände in Richtung der großen Kastanie: „Darf ich vorstellen: Cornelia Kastanie, die Grüne.“

Und während Norbert in schallendes Gelächter ausbrach, sah Joachim Harald mit gerunzelter Stirn an: „Du willst den Baum da als Kandidaten zum Bürgermeister aufstellen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

„Harald hat total recht.“, warf Norbert ein, der sich vor Lachen kaum beruhigen konnte: „Sie es mal so: Sie ist älter als wir alle hier im Dorf, lebt also am längsten hier und kennt jeden von uns persönlich. Sie steht immer im Zentrum und tut echt was für die Bevölkerung. Hörst du die Vögel zwitschern? Die wohnen alle hier in den Ästen und Zweigen. Sogar ein Eichelhäher-Pärchen nistet hier, was sehr ungewöhnlich ist. Und dass wir unser Bier hier im Schatten genießen können bei angenehmer Luft haben wir nur ihr zu verdanken. Für mich ist sie die ideale Kandidatin.“

„Aber warum ‚sie‘ und warum ‚Cornelia‘?“, fragte Joachim weiter.

„Die alte Frau Heimann hat sie so getauft.“, antwortete Harald: „Sie liebte diese Kastanie und hat immer mit ihr geredet. Also hat sie sie irgendwann Cornelia genannt.  Und sie ist ja auch weiblich: Es heißt ja DIE Kastanie, oder?“

Joachim huschte jetzt tatsächlich ein Schmunzeln über die Lippen: „Na lass das mal nicht unseren alten Biolehrer Herr Fritz hören.“

„Aber da hast du’s!“, sagte Norbert voller Enthusiasmus: „Sie wäre endlich mal eine Bürgermeisterin, die zuhört, wenn die Leute mit ihr reden!“

Joachim hob sein Glas: „Auf unsere Kandidatin, Frau Cornelia Kastanie!“

„Auf Cornelia!“, stimmten Norbert und Harald ein.

 Ein paar Tage später klingelte Joachims Handy:

„Seid ihr jetzt vollkommen verblödet? Ihr habt im ganzen Dorf Wahlplakate aufgehängt mit einem Baum als Kandidatin. Ist das Euer Ernst?“ schrie es aus dem Telefon.

„Hallo Walter, dir auch erstmal einen schönen Tag. Und ja, das ist unser voller Ernst.“

„Ha, dagegen werden ich Beschwerde und Klage einlegen. So einen Blödsinn habe ich ja noch nie gesehen.“

„Vergiss es Walter. Ich habe alles geprüft und durch einen Rechtsanwalt gegenchecken lassen. Wir dürfen das tun. Ich wünsche dir viel Erfolg. … Oder besser nicht!“ Joachim legte auf.

Am Wahltag strömten die Menschen ins Wahllokal in der örtlichen Schule und bereits um 18.30 Uhr stand das Ergebnis fest. Die neue Bürgermeisterin Cornelia gewann mit 67% der Stimmen. Und am Abend gab es ein spontanes Fest auf dem Dorfplatz. Wirt Michael hatte vor dem Restaurant seinen Grill aufgebaut und es gab ein großes Fass Freibier. Dazu spielte Haralds Band und es wurde bis in die Nacht hinein gefeiert und getanzt.

Am nächsten Morgen schlich Walter mit hängenden Schultern über den noch menschenleeren Platz. Unter Cornelias Blätterdach blieb er stehen, sah nach oben und reckte seine Faust empor: „Du blöder Baum. Ich hätte dich schon vor Jahren fällen lassen sollen, wie ich es geplant hatte. Aber es musste ja diese beschissene Unterschriftenaktion geben.“

Da hob Mutter Eichelhäher ihren Schwanz über den Nestrand und drückte ab.

Volltreffer!

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