
Das Beweisstück
Thema: Eine kurze Geschichte über ein mysteriöses Stück Papier.

Erika saß, wie jeden Montagmorgen, an ihrem Schreibtisch im Polizeirevier Innenstadt, hatte sich bereits ihren obligatorischen Kaffee zum Wochenstart mit viel Zucker aus der Küche geholt und las nun ihre E-Mails, die am Wochenende eingegangen waren. Doch ein plötzliches, lautes Scheppern ließ sie zusammenzucken, so dass ihr Kaffee, den sie gerade trinken wollte aus der Tasse schwappte und sich über die Tastatur ihres Computers verteilte.
Aber es war nur die Bürotür, die mit so viel Schwung aufgestoßen wurde, dass sie an das danebenstehende Metallregal geschlagen war.
Daniel stürmte mit aufgerissenen Augen herein: „Erika, du glaubst nicht, was ich gestern …“ Er konnte nicht weitersprechen, denn eine Welle der Entrüstung rollte über seine Worte und erstickte diese im Keim:
„MUSST DU SO REINPLATZEN, DU VOLLPFOSTEN?“, schrie Erika und sprang auf: „GUCK DIR AN, WAS DU ANGERICHTET HAST! Hol mir wenigstens schnell Papier aus der Küche.“
Aber Daniel ließ sich nicht einschüchtern und zog voller Enthusiasmus eine kleine, durchsichtige Plastiktüte aus seiner Jacke: „Ich hab’s schon hier. Sieh nur!“
Erika runzelte die Stirn und trat näher an Daniel heran. In der Tüte befand sich ein zusammengeknülltes, blutiges Stück Küchenpapier.
„Das lag heute Morgen in meinem Briefkasten.“, erklärte Daniel.
„Wieso guckst du Montagmorgen in deinen Briefkasten? Die Post kommt doch erst am Mittag.“
„Ich gucke jedes Mal rein, wenn ich dran vorbeikomme. Ist so eine Marotte von mir.“
„Na schön. Aber was ist das?“ Erika betrachtete das Papier wie ein antikes Museumsstück.
„Jemand hat uns vielleicht den Beweis im Fall des Tiefgaragenmords zugespielt. Kannst du dich erinnern, dass wir Fußspuren gefunden hatten, die vermutlich von einem Zeugen stammten und dass Blutspuren neben dem Opfer absichtlich entfernt wurden?“
„Ja natürlich. Und wir haben in sämtlichen Medien einen Zeugenaufruf gestartet, ohne Erfolg. Aber das ist doch schon bestimmt acht Monate her.“
„Egal. Vielleicht hat er sich endlich durchgerungen, Kontakt mit uns aufzunehmen, wenn auch auf etwas seltsame Art und Weise.“ Daniel hob die Tüte hoch und hielt sie gegen das Licht, als würde er nach versteckten Hinweisen suchen.
„Könnte schon sein. Wir hatten damals ja auch Reste von Küchenpapier gefunden.“
„Stimmt! Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht: Fragmente, die durch den Abriss an der Perforation entstanden sind. Ich gebe das hier gleich ins Labor.“ Daniel stürmte wieder hinaus und rief noch ein schnelles: „Und endschuldige die Sauerei.“, über die Schulter, während er bereits den Korridor hinunterlief.
Eine Stunde später traf eine E-Mail vom hausinternen Labor auf Daniels Computer ein. Er öffnete sie hastig und las laut vor: „Das Ergebnis des Bluttests wurde … blah blah blah … männlich, Blutgruppe A positiv … blah blah blah.“ Er drehte sich zu Erika um, die bereits hinter ihm stand und ebenfalls auf seinen Monitor blickte: „Das Opfer hatte Null negativ. Das könnte tatsächlich Blut vom Täter sein.“
„Wir müssen prüfen, ob das Papier mit den Fragmenten, die wir seinerzeit gefunden hatten, übereinstimmt.“
Daniel lächelte triumphierend: „Ist alles schon veranlasst: Überprüfung des Papiers, DNA, das ganze Programm. Die ersten Ergebnisse kommen wahrscheinlich schon morgen.“
Erika rüttelte Daniel freundschaftlich an der Schulter: „Na hoffen wir mal das Beste!“
Am Abend hielt Daniel mit seinem Wagen vor der Einfahrt zur Tiefgarage seines Wohnhauses. Er öffnete mit der Fernbedienung das Tor, als plötzlich jemand an das Beifahrerfenster klopfte.
Daniel fuhr die Scheibe herunter. Draußen stand der Hausmeister mit ernster Miene im Gesicht: „Herr Flockenreiter, ich bemühe mich wirklich sehr, dieses Haus hier sauber zu halten, vor allem den Flur.“
„Ja, und das machen Sie wirklich großartig.“ Daniel grinste.
„Und jetzt hören Sie mir gut, Herr Wachtmeister, oder welchen Dienstgrad Sie auch immer haben: Wenn ich Ihren Bengel von Sohn nochmal dabei erwische, wie er mit Nasenbluten nach Hause kommt und sein Taschentuch, oder was immer das war, einfach auf die Treppe entsorgt, bekommen Sie Ärger. Ich bin hier nicht der Müllmann.“ Er drehte sich um und stampfte von dannen. Aber nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal um: „Das Taschentuch habe ich übrigens in Ihren Briefkasten gestopft. Wegwerfen können Sie es selbst!“