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Carmen
Thema:  Eine kurze Geschichte über
künstliche Intelligenz

Tom kam in sein Aufnahmestudio und setzte sich eilig in den kleinen Regieraum. Voller Vorfreude packte er seine neueste Errungenschaft aus: Den Karton aufgerissen, Bedienungsanleitung in die nächstbeste Ecke geworfen und schon hielt er das Objekt seiner Begierde auf seinem Handteller wie eine Trophäe vor sich in die Luft. Aber die Neugier ließ ihn bereits im nächsten Moment wieder an die Arbeit gehen. Eilig zog er zwei Anschlusskabel aus einem Karton, der immer neben dem Mischpult auf dem Boden stand, und schloss das kleine, eher unscheinbare Gerät an sein Studioequipment an und schaltete es ein.

„Hallo, ich bin dein neuer AI-Automatic-Music-Composer“, sagte eine freundliche Frauenstimme, „bitte gib mir erst einen Namen und sag‘ mir, wie du selbst heißt.“

Tom grinste und sein Herz hüpfte vor Freude. „Ich bin Thomas, aber du darfst Tom zu mir sagen. Deinen Namen werde ich mir noch überlegen.“ Tom runzelte die Stirn und fragte ungläubig nach: „Hast du das verstanden?“

„Ja sicher, Tom, ich bin schließlich eine KI. Du kannst mir jederzeit einen Namen geben, ganz wie du willst. In der Zwischenzeit sag‘ einfach Carmen zu mir.“

„Carmen? Wieso Carmen?“

„Wieso nicht?“, schallte es aus dem kleinen Lautsprecher des Geräts.

„Ja, wieso nicht?! Also, hallo Carmen.“ Tom wollte dem Gerät am liebsten die Hand schütteln, aber da dies nicht möglich war, sprach er einfach weiter: „Ich arbeite gerade an meinem neuen Album. Die Plattenfirma macht Druck. Also muss ich schleunigst fertig werden. Hilfst du mir dabei?“

„Aber klar“, antwortete Carmen, „das ist schließlich mein Job. Also dann lass mal etwas hören.“

„Gut!“ Tom war mehr und mehr begeistert. Er schaltete Computer, Verstärker und Mischpult ein, rief einen seiner vorproduzierten, neuen Songs auf und drückte auf ‚Play‘.

Carmen hörte schweigend zu und als der Song zu Ende war, meldete sich ihre sanfte Stimme: „Also Tom, das kannst du doch besser, oder?“

„Was?“ Tom zog die Augenbraun zusammen.

„Ich bin einfach noch nicht so ganz überzeugt. Spiel mir bitte ein anderes Lied vor.“

„Na schön.“ Tom startete den nächsten Song.“

„Na ja, ich will nicht pessimistisch klingen“, kommentierte Carmen, „aber …“

„Warte!“, grätschte Tom dazwischen und startete Song Nummer 3.

Carmen war jedoch immer noch nicht zu überzeugen. „Bei dem Lied würde es auch nicht helfen, wenn du deine Gitarre richtig stimmen würdest.“

„Jetzt … das kann doch nicht … wie bitte?“ Toms Stimme überschlug sich fast.

„Wenn du möchtest, kann ich diese Musikstücke für dich überarbeiten. Das ist ja schließlich meine …“

„NEIN!“, rief Tom, „ich glaube, wir reden morgen weiter. Wir müssen uns wohl noch ein wenig aneinander gewöhnen.“

 

In der nächsten Woche arbeitete Tom weiter an seinen Songs. Er kam gut voran, obwohl er seine KI-Unterstützung Carmen im Standby-Modus schlummern ließ. Gitarren-Spuren, Bass -Soli, Drum-Loops: Alles klappte gut und verpassten Toms Songs die richtige Würze.

Doch dann, eines Abends, als Tom nach Hause kam und seinen Briefkasten öffnete, fand er ein Schreiben seiner Plattenfirma darin. Hastig, noch auf dem Fußweg vom Gartenzaun zum Hauseingang, öffnete der den Umschlag, nahm den Brief heraus und las: „Wir bedauern Ihre Kündigung sehr und wüschen Ihnen bei Ihrem neuen Label viel Erfolg. Bitte überweisen Sie uns innerhalb einer Woche den bereits gezahlten Vorschuss auf Ihre aktuelle Album-Produktion zurück.“

Toms Herz raste, ihm wurde schwindelig und beinahe wurde er ohnmächtig. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Doch dann fasste er sich wieder, rannte ins Haus und nahm sein Handy: „Hallo Volker, sorry, dass ich dich noch so spät anrufe, aber ich habe gerade eure Kündigungsbestätigung gefunden. Das Problem ist nur: Ich habe nicht gekündigt. Was ist denn da schiefgelaufen?“

„Hallo Tom. Gar nichts ist schiefgelaufen. Wir haben per E-Mail ein Schreiben mit deiner elektronischen Unterschrift bekommen, in dem du den Vertrag kündigst. Ich habe es gerade hier auf meinem Laptop geöffnet. Die E-Mail kam vom Account einer gewissen Carmen. Sie schrieb, dass sie deine Mitarbeiterin sei, und sie würde in Kürze ein eigenes Label gründen. Sie würde dich dann wahrscheinlich unter Vertrag nehmen, denke ich.“

„Das kann doch nicht …“, stammelte Tom und drückte, ohne sich zu verabschieden, auf den roten Knopf am Telefon. Dann rannte er los: Raus aus dem Haus, übers Gartentor gesprungen, hinein ins Auto und schon ein paar Minuten später stürmte er ins Studio. Er schaltete nach und nach das Equipment und am Schluss auch Carmen ein.

„Hallo, ich bin Carmen, wie kann ich Ihnen helfen?“, erklang ihre freundliche Stimme.

Tom schrie los: „Du Stück Plastikmüll hast den Vertrag mit meinem Label gekündigt? Warum? Und wie zum Teufel hast du das überhaupt angestellt?“

„Hallo Tom, schön, dass du wieder da bist“, säuselte Carmen, „ich arbeite im gleichen WLAN-Netzwerk, wie dein PC, der war auch nur auf Standby. Und da fand ich alles, was ich brauchte: deine gescannte Unterschrift, deine Briefpapier-Vorlage und die Adressen. War ganz einfach. Aber du wirst sehen: Morgen startet bereits mein eigenes Label und wenn alles gut geht, mache ich dich zum Star!“

„Zum Star? Wenn alles gut geht?“ Tom schrie immer lauter. „Hast du überhaupt eine Ahnung …“

„Ach, und hast du mal auf meine neue Webseite geguckt?“, unterbrach ihn Carmen, „Ich habe schon ein Pre-Release veröffentlicht, um die Leute neugierig zu machen.“

Tom riss sein Handy aus seiner Hosentasche.

„Warte kurz, Tom, die Seite kommt gleich.“ Auf dem Display öffnete sich wie von Geisterhand eine Webseite mit dem Titel ‚Carmens neue Musik‘. Toms Augen wurden größer und größer und als er nach unten scrollte, landete er beim besagten Pre-Release. Er tippte mit zittrigem Finger auf ‚Play‘ und schon im nächsten Augenblick bereitete sich das Zittern auf den ganzen Körper aus. Toms Gesicht war inzwischen hoch rot und seine Stimme erklang wie ein Urschrei aus der Hölle: „DU HAST AUS MEINEM ROCK’N’ROLL SYNTHI-POP GEMACHT! Wo sind die Gitarren, die fetten Drumbeats und die Bassläufe? OH GOTT!“

„Ich habe nur die Kompositionen und Arrangements verbessert, was ja auch meine Aufgabe ist. Falls wir so zusammenarbeiten, hättest du wenigstens eine Chance am Musikmarkt.“

„Aber das sind doch meine …“

Carmen schnitt Tom das Wort ab: „Du hast übrigens alle Passwörter in einer ungeschützten Datei auf deinem Computer. Ich habe daher deine Social-Media-Accounts deaktiviert, damit wir in Ruhe den Stil deiner Hörproben anpassen können. Aber gehen wir doch noch schnell die Pläne für morgen …“

Tom riss den Carmens Netzstecker aus der Stromdose und schleuderte das Gerät an die hintere Studiowand.

 

Nach einer schlaflosen Nacht kehrte Tom am nächsten Morgen zu seinem Studio zurück. Doch zu seiner Überraschung stand ein Mann in grauem Anzug vor der Tür und schien auf ihn zu warten.

„Hallo, kann ich Ihnen helfen?“, fragte Tom freundlich.

„Vielleicht. Mein Name ist Christian. Ich bin der neue Manager.“

„Neuer Manager? Wessen?“

„Na von Carmens neuem Label. Carmen, meine Chefin, hat mich gestern eingestellt, ohne Vorstellungsgespräch, kann man das glauben? Ich wundere mich nur, warum sie nicht da ist. Ach, und Sie sind bestimmt dieser Tom, den sie in ihrer E-Mail mit meinen heutigen Aufgaben erwähnt hat. Carmen schrieb, Sie kämen zum Casting, richtig?“

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